Digitalisierung in der gesetzlichen KV und der sozialen PV
Digitalisierung in der gesetzlichen KV und der sozialen PV

Heil- und Hilfsmittel

Digitale Anwendungen können unter bestimmten Voraussetzungen auch als Hilfsmittel oder Heilmittel eingeordnet werden.

Hilfsmittel

App-Anwendungen können ggf. als Hilfsmittel i. S. d. §§ 33 Abs. 1 i. V. m. § 11 Abs. 6 SGB V qualifiziert werden. Hilfsmittel sind nach herrschender Meinung der Literatur und der Rechtsprechung des BSG sächliche Mittel. Entsprechend der Rechtsprechung des BGH (Urt. vom 15. November 2006, AZ: XII ZR 120/04, Rn. 12 ff.), wonach eine auf einem Datenträger verkörperte Standardsoftware als bewegliche Sache anzusehen ist, sowie des BSG (Urt. vom 28. Juni 2001 - B 1 KR 3/00 R) kann auch eine Software ein Hilfsmittel sein.

Das BAS prüft in der Aufsichtspraxis, ob eine Leistungsübernahme im Rahmen des gesetzlichen Leistungskataloges nach § 33 Abs. 1 SGB V in Betracht kommt, oder ob das Hilfsmittel in Verbindung mit einer neuen ärztlichen Untersuchungs- und Behandlungsmethode angewendet wird, welche nicht Gegenstand der Regelleistung ist.

Die Hilfsmittelversorgung gehört zu den sog. veranlassten Leistungen und ist damit Teil der ärztlichen Behandlung nach § 28 SGB V. Hilfsmittel, die auf der Grundlage des § 33 SGB V als Regelleistungen übernommen werden, müssen neben den speziellen Leistungsvoraussetzungen des § 33 Abs. 1 SGB V (Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung, drohende Behinderung vorbeugen, Behinderung ausgleichen) die Anforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V erfüllen und daher „…den allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen…“.

Ein Leistungsanspruch besteht nach § 33 SGB V aber nur, wenn die engeren Voraussetzungen der Norm (Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung, drohende Behinderung vorbeugen, Behinderung ausgleichen) im Einzelfall erfüllt sind. Dies gilt auch für § 11 Abs. 6 SGB V, so dass keine Satzungsregelung genehmigungsfähig ist, die eine Kostenübernahme für ein Produkt vorsieht, welches die engeren Voraussetzungen der Hilfsmitteleigenschaft (Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung, drohende Behinderung vorbeugen, Behinderung ausgleichen) nicht erfüllt.

Wenn ein Hilfsmittel untrennbar mit einer ärztlichen Leistung verknüpft ist, muss im Rahmen des gesetzlichen Leistungskataloges auch die der Versorgung zugrunde liegende Behandlungsmethode durch den G-BA positiv bewertet sein (sog. Erlaubnisvorbehalt).

Als Beispiel für ein Hilfsmittel mit digitalen Funktionen, welches auf Grundlage des § 33 Abs. 1 SGB V im Rahmen der Regelleistung erstattungsfähig ist, ist die kontinuierliche interstitielle Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) für Diabetikerinnen und Diabetiker zu nennen. Der G-BA hat in seiner Sitzung am 16. Juni 2016 beschlossen, die rtCGM zur Therapiesteuerung bei Patientinnen und Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus in die vertragsärztliche Versorgung aufzunehmen, wenn sie bestimmte Anforderungen erfüllen.

Als Beispiel eines digitalen Hilfsmittels, welches in Verbindung mit neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eingesetzt wird, ist die Behandlung von Strabismus (Schielen) bei Kindern zu nennen. Die App wird von Augenärzten verordnet und wird auf einem Tablet aufgespielt. Unter Beachtung der Anwendungsempfehlung des Arztes wird der betroffene Augenmuskel des schielenden Kindes für eine vorgegebene Zeit pro Tag trainiert. Hierbei handelt es sich um eine Software, die verbunden mit dem Tablet als „verkörpert“ zu bewerten ist und damit dem gegenständlichen Hilfsmittelbegriff unterfällt. Die Regelversorgung sieht ein kombiniertes Behandlungskonzept vor, im Rahmen dessen das schielende Auge zur Stärkung der Augenmuskulatur abgeklebt wird. Der Einsatz dieser Anwendung ersetzt das Abkleben des Auges. Dieses miteinander verbundene Behandlungskonzept ist bisher noch nicht vom G-BA bewertet worden, so dass unter Berücksichtigung des Erlaubnisvorbehalts eine Kostenübernahme in der Regelversorgung auf der Grundlage des § 33 Abs. 1 SGB V nicht in Betracht kommt. Insoweit ist Raum für eine Satzungsregelung nach § 11 Abs. 6 SGB V oder für Verträge nach §§ 73b SGB V, 140a SGB V.

Als ein weiteres Beispiel für ein digitales Hilfsmittel ist eine App zur Behandlung von Tinnitus zu qualifizieren. Auch diese App wird auf dem Smartphone aufgespielt und nivelliert Ohrgeräusche durch Frequenzveränderung in Musikstücken. Der Einsatz dieser App weicht von der Behandlung in der Regelversorgung ab. Diese sieht bei einer Tinnituserkrankung ein kombiniertes Behandlungskonzept bestehend aus einer ärztlichen Therapie, Arzneimittelversorgung (Infusionen, Kortison etc.) und einer Hörgeräteversorgung mit einem Tinnitusmasker vor. Es handelt sich insgesamt um ein miteinander verbundenes Behandlungskonzept. Der Tinnitusmasker ist im Hilfsmittelverzeichnis gelistet (Produktgruppe 13). Bei der App wird eine individuell vom Versicherten ausgewählte Musik in der Hörfrequenz verändert. Zu dieser Methode gibt es zwar bereits wissenschaftliche Studien, der Nachweis einer Wirksamkeit konnte jedoch noch nicht erbracht werden. Auch hier besteht Raum für eine Satzungsregelung nach § 11 Abs. 6 SGB V oder Verträge nach §§ 73b SGB V sowie Versorgungsvorhabennach 140a SGB V.

 

Heilmittel

App-Anwendungen können zudem ggf. als Heilmittel i. S. d. §§ 32 Abs. 1 oder § 11 Abs. 6 SGB V qualifiziert werden.

Das BAS hat mehrere Apps, mittels derer den Versicherten ein individuelles Eigentraining ergänzend zur Sprachtherapie ermöglicht wird, als Heilmittel bewertet. Eine dieser Apps ist speziell für Kinder entwickelt worden. Die in der App bereitgestellten und vom Therapeuten individuell auf den Versicherten eingestellten Inhalte entsprechen dem Grunde nach den in den Heilmittel-Richtlinien geregelten Standardmethoden einer logopädischen Behandlung zur Wiederherstellung, Besserung und dem Erhalt der koordinierten motorischen und sensorischen Sprechleistung nach § 32 SGB V. Die Anwendung übersteigt aber den Leistungsrahmen der Verträge nach § 125 SGB V, so dass die Anwendung keine Regelleistung darstellt, die im gesetzlichen Leistungskatalog enthalten wäre. Das BAS sieht aber die Möglichkeit, die Kosten der Anwendung auf der Grundlage der Satzungsregelung nach §§ 11 Abs. 6, 31 SGB V oder in Selektivverträgen nach §§ 140a, 73b SGB V zu übernehmen.

(Stand: 30.06.2020)